Satire zur technisierten Gegenwart
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Verlagerte Wichtigkeiten
Franz und ich verbrachten gestern einen gemütlichen Abend miteinander, das erste Mal seit Monaten zusammen. Wir wohnen soweit voneinander entfernt, dass wir uns nur ganz selten treffen.
Ich fuhr ganz früh morgens weg, es war noch dunkel. Der Morgen graute mit milchighellen Nebelschleiern, die über Fahrbahn und Wiesen schwebten. Die Autobahn lag verlassen da, ausser mir schienen alle noch zu schlafen. Ganz allmählich zogen erste Vögel ihre Runden über die nahen Wiesen. Ich gähnte, streckte mich, drehte den Knopf vom Radio nach rechts, vielleicht konnte mich mehr Lärm wieder muntermachen. Ich kurbelte das linke Seitenfenster runter, atmete die frische, kalte Morgenluft ein und schauderte zusammen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich noch ca 8 Stunden Fahrt vor mir hatte. Ich bin weite Strecken gewöhnt, fahre viel. Je näher ich meinem Ziel komme, desto munterer werde ich. Zwischendurch hänge ich meinen Gedanken nach, manchmal scheint es als ob ich schlafen würde, da kann ich mich nichtmal mehr daran erinnern, ob ich die richtige Abfahrt genommen habe. Ich glaube, ich fahre automatisch richtig. Ich verirre mich nur in den Städten. Kaffee habe ich meistens in der Thermoskanne dabei, ab und an halte ich auf einem Parkplatz, vertrete mir die Füße, dann fahre ich wieder weiter. Ca alle 400 Kilometer muss ich tanken und nehme dann auch manchmal Anhalter mit.
Endlich, die Fahrt näherte sich dem Ende. Es wurde Zeit, mein Körper fühlte sich langsam taub an. Mein Rücken wünschte eine Haltungsveränderung. Ich nahm die Ausfahrt West, verlangsamte die Geschwindigkeit, rollte langsam auf die Ampel zu. Noch ein paar Kilometer, und ich war am Ziel. Ich bog die letzte Strasse rechts ein, warf im Vorbeifahren einen Blick auf das Haus von Franz, oben im 3. Stock wohnt er. Ein warmes Gefühl der Freude durchflutete mich. Ich drehte am Ende der Strasse, fuhr zurück und parkte mich direkt vor dem Haus auf einem freien Platz ein. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte mir, dass mein Haar gut saß, mein Make-up nicht allzusehr gelitten hatte. Ich beugte mich nach hinten, holte meine Jacke von der Rücksitzbank, zog sie umständlich an. Mittagessenzeit. Gähnend schaute ich mich in meinem Auto um. Radio aus, Fenster zu, gut. Ich öffnete meine Autotür und stand mit dem linken Schuh direkt in Hundekot. Das kann nur mir passieren. Ärgerlich säuberte ich meine Schuhsohle, Ausschau haltend nach dem Übeltäter. Ich mag Hunde, habe selbst einen, auf lange Fahrten nehme ich ihn nicht mit.
Ich schritt zum Haus, klingelte bei Franz, mußte warten. Hat er mich nicht klingeln gehört? Ich versuchte es nochmal. Nichts. Vielleicht war er auf einen Sprung aus dem Haus gegangen? Noch ein Versuch. Ich vernahm das Schlagen einer Tür, schwere Schritte polterten die Holztreppe herunter, die Haustür öffnete sich, vor mir stand Franz. Er trug einen blaugrau gestreiften Pyjama, den dunkelblauen Morgenrock drüber, die grauschwarzen Haare verwurschtelt, augenscheinlich hatte ich ihn aus dem Bett geholt. Ich lachte ihn an, nahm ihn in den Arm: "Tag Franz, ist es spät geworden gestern?" Er erwiderte meine Umarmung, drückte mich an sich um mich dann wieder loszulassen, guckte mich gähnend an und nuschelte "ich hatte zu tun".
Wir stiegen die Treppe hoch zu seiner Wohnung. "Ich setze Kaffee auf", meinte er, "lass Dich nieder." Ich schaute mich in seiner Wohnung um, es hatte sich nichts verändert seit meinem letzten Besuch. "Kommst du mit?" Ich begleitete ihn ins Wohnzimmer, schob die schweren braunen Samtvorhänge zur Seite, öffnete das Fenster. "Kalt", schauderte Franz zusammen. Ich zündete eine der Kerzen an, wie immer, wenn ich ihn besuche. "Du weisst Bescheid?" Franz schaute mich an. "Aber ja", das fragt er mich immer. Ich nahm Platz. Franz setzte sich ebenfalls. Ich hatte nichts vergessen, führte die gewohnten Handgriffe aus. Ich mag, wenn Franz lacht. Sein perlendes Gelächter erklang gerade in diesem Moment. Er sieht toll aus, ein gut gebauter, schlanker Mann, erste graue Haare geben ihm ein interessantes Äußeres. Lächelnd wandte ich den Blick ab und konzentrierte mich auf mein Tun. Meine Finger verrichteten ihren Dienst in gewohnter Schnelle, den Rhythmus hatte ich sofort gefunden.
"Sie greifen an", ein heiseres Flüstern. Irritiert schaute ich hoch. "Schau hier, da sind sie wieder, sie greifen an. Ich beobachte sie seit Tagen, es sind viele". Gespannt verfolgten wir die Meldungen, lauter Unbekannte, vielstellige Nummern drangen ein, sie suchten etwas. Subseven, backdoor, portscan, das Licht leuchtete rot auf. Entsetzt machte Franz seinen Computer aus. Dadurch hatte mein Computer auch keinen Strom mehr. Bestürzt schauten wir uns an. Hatte er Feinde? "Das passiert seit Tagen, ich weiß nicht, was das ist", Franz schien verzweifelt. Er fürchtete um seinen Computer. "Ich habe die ganze Nacht mit ihnen gekämpft, ständig Zugriffe verweigert, aber kaum ist einer weg, kommt der Nächste. Ich komme nicht mehr zum arbeiten, ich bin nur noch damit beschäftigt, Zugriffe zu verweigern. Was ein Glück, dass ich mir vorige Woche diese gute Firewall gekauft habe. Nicht auszudenken, welcher Gefahr man sich aussetzt, wenn man keine Firewall hat. Du musst Dir auch eine kaufen", meinte er und startete seinen Computer wieder. "Vielleicht geht es jetzt."
Franz hat einen sehr anstrengenden Beruf, er ist Arzt. In seiner Praxis stehen auch Computer, er kann damit umgehen, alle Daten werden elektronisch gespeichert. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Computern. Man muss mit der Zeit gehen, das altmodische Karteiablagesystem hat ein Ende gefunden. Nun waren alle Patientendaten elektronisch erfasst und sofort abrufbar. Er muss nurmehr einen Namen eingeben, und die ganz Chronologie des Patienten erscheint vor seinen Augen. Franz hatte seine Liebe für diese schnelle, relativ unkomplizierte Datenerfassung entdeckt und sich auch für zuhause einen Computer gekauft. Eines der alten Geräte aus der Praxis hatte er sich mit seinem Computer zuhause vernetzen lassen, um seine Besucher angemessen zu erfreuen. Die Wochenenden mit Franz sind etwas ganz Besonderes. Wir verbringen unsere Zeit gemeinsam hinter dem Bildschirm. Er sitzt an seinem Computer, und ich surfe auf dem zweiten Gerät durch das Netz. Franz chattet gerne, er trifft sich mit einer Chatclique. Er sitzt Stunde um Stunde vor seinem Gerät, vergisst die Zeit, lacht und spricht mit seinen unsichtbaren Bekannten.
Ich freue mich immer riesig, wenn ich bei ihm zu Besuch bin. Ich kann meinen Gedanken nachgehen, durch‘s Netz surfen. Ich lese viel, betrachte mir die vielen bunten Homepages. Ab und an versuche ich mich auch in einem Chat, es sind lauter fremde kunstvolle Namen, die sich schriftlich unterhalten. Wir schreiben übers Wetter oder was es Neues im Fußball gibt. Alles interessante Themen. Es ist nie langweilig. Manchmal vergessen wir sogar zu essen, der aufgesetzte Kaffee müßte längst fertig sein.
Ins Netz zurückgekehrt, begann das bedrohliche Treiben erneut. Ich beobachtete wie Franz Zugriffe verweigerte, er kam zu nichts, lauter Angreifer, die sich seines Computers bemächtigen wollten. "Unzufriedene Patienten vielleicht", er schaute resignierend zu mir rüber, "langweilen sich die Leute oder liegt es an der wirtschaftlichen Lage, Unzufriedene?" Er hob die Augenbrauen, wandte seine Aufmerksamkeit schnell dem Computer zu, gerade versuchten 5 Angreifer sich seines Systems zu bemächtigen, er wehrte sie erbost ab.
"Hast du dich denn erkundigt, was es mit dieser Firewall auf sich hat?" Als wir früher im Netz suften, ohne Firewall, verbrachten wir die Wochenenden auch im Netz und waren meines Wissens nie angegriffen worden. Franz diktierte mir eine URL, bat mich zu lesen, was dort stand. Ja, eindeutig, ich verstand nun, dass es überlebenswichtig ist, diese Firewall auf jedem Computer zu installieren. Wie können Menschen heutzutage nur ohne Firewall ins Netz gehen. Es lauert an jeder Ecke ein Feind.
Wir saßen Stunden gemeinsam am Computer. Irgendwann, spät nachts legte ich mich ein paar Stunden schlafen, musste ich doch am Sonntag heimfahren. Als ich aufstand und ins Wohnzimmer kam, saß Franz nervös, fahrig, sehr aufgeregt, mit verschwitzten Haaren vor seinem Computer. Schwer atmend meinte er "Ich konnte keine Minute ungestört chatten. Während du geschlafen hast, habe ich mein Hab und Gut verteidigt. Ohne mich hättest du nicht so sicher schlafen können. Wenn die hier alle eingedrungen wären, nicht auszudenken, sie hätten ja alles klauen können." Er will den Erfindern der Firewall ein Dankschreiben senden. Zum Abschied hielt er mir die Wange hin zum Küsschen, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Es ist zu riskant, die Firewall einen Moment unbeaufsichtigt zu lassen.
Ich packte meine Sachen ein, wünschte ihm viel Glück. Ich konnte leider nichts für ihn tun. Auf mich wartete die lange Heimfahrt. Ich hoffte insgeheim, dass ich auf der Autobahn nicht den vielen Feinden von Franz begegnete.
© copyright by Shadowdance 1.12.2002 (Urheberrechte) -
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Hallo shadowdance,
schön dass du deine Texte auch hier und nicht nur auf deiner Website zeigst (hätte die Geschichte sonst nicht gefunden).
Mir persönlich fehlt aber irgendwie ein Höhepunkt/Pointe, ab
""Sie greifen an", ein heiseres Flüstern."
hätte ich eigentlich erwartet dass irgendwas spektakuläreres passiert.
z.B. so etwas wie im letzten Absatz bei http://shadowdance.lima-city.de/prosa/kurzgeschichten/kurz_a.html (schöne Schlusswörter übrigends )
oder http://shadowdance.lima-city.de/prosa/kurzgeschichten/kurz_o.html (auch großartig :-) )
Abgesehen davon: Wieso trennt er nicht die Netzwerkverbindung anstatt dem PC den Saft abzudrehen?
Technisch gesehen ist das eher irritierend...
Mfg
Arthur Dent -
Hallo shadowdance.
Auch ich finde es Toll deine Geschichten hier zu lesen hätte diese ebenfalls nicht gefunden. Mir gefällt es. Mach bitte weiter so.... -
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